Auf dem Weg zur inklusiven Jugendhilfe: Chancen und Herausforderungen des KJSG

Auf dem Weg zur inklusiven Jugendhilfe: Chancen und Herausforderungen des KJSG
Seit einigen Jahren befindet sich die deutsche Jugendhilfelandschaft in einem tiefgreifenden Transformationsprozess. Auslöser ist das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz (KJSG), das 2021 in Kraft trat und weitreichende Änderungen mit sich brachte. Ein Kernstück dieser Reform ist das Ziel, eine "inklusive Lösung" zu schaffen: Die Jugendhilfe soll künftig die zentrale Anlaufstelle für alle Kinder und Jugendlichen sein – unabhängig davon, ob sie eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung haben oder nicht. Damit soll die bisherige Zersplitterung der Zuständigkeiten zwischen Jugendhilfe (SGB VIII) und Eingliederungshilfe (SGB IX) überwunden werden. Dieser Paradigmenwechsel hin zu einer inklusiven Jugendhilfe birgt enorme Chancen für betroffene Kinder, Jugendliche und ihre Familien, stellt das System aber auch vor erhebliche Herausforderungen.
Einleitung: Das KJSG und der Paradigmenwechsel zur Inklusion
Das KJSG verfolgt das ambitionierte Ziel, die Rechte von Kindern und Jugendlichen zu stärken, ihre Teilhabe zu fördern und ihnen bessere Entwicklungschancen zu ermöglichen. Ein zentraler Baustein dafür ist die Vision einer inklusiven Jugendhilfe, die alle jungen Menschen mit Unterstützungsbedarf unter einem Dach vereint. Bisher war es oft so, dass Familien mit einem Kind mit Behinderung sich an unterschiedliche Systeme wenden mussten – die Jugendhilfe für Erziehungsfragen, die Eingliederungshilfe für behinderungsspezifische Leistungen. Dies führte zu Zuständigkeitsstreitigkeiten, Informationsverlusten und einer unnötigen Belastung für die Familien. Das KJSG will diese Trennung aufheben und die Jugendhilfe als umfassenden Lotsen und Leistungserbringer für alle Kinder und Jugendlichen etablieren. Dies ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die ein inklusives Aufwachsen fordert.
Was bedeutet "Inklusive Lösung" konkret?
Die "inklusive Lösung" oder auch "große Lösung" bedeutet, dass die Leistungen der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche mit (drohenden) seelischen, geistigen oder körperlichen Behinderungen schrittweise in die Zuständigkeit der Jugendhilfe übergehen. Bis spätestens 2028 soll dieser Prozess abgeschlossen sein. Konkret heißt das:
- Einheitliche Zuständigkeit: Das Jugendamt wird zum zentralen Ansprechpartner für Familien, unabhängig von der Art des Unterstützungsbedarfs ihres Kindes.
- Leistungen aus einer Hand: Familien sollen alle benötigten Leistungen – von der Erziehungsberatung über Hilfen zur Erziehung bis hin zu spezifischen Förder- und Teilhabeleistungen – koordiniert und aus einer Hand erhalten.
- Personenzentrierung: Die individuellen Bedürfnisse und der Wille des Kindes oder Jugendlichen sollen im Mittelpunkt stehen, nicht die Frage, welches Gesetzbuch oder welcher Kostenträger zuständig ist.
- Stärkung von Teilhabe: Die Reform zielt darauf ab, die soziale Teilhabe von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen (Kita, Schule, Freizeit) zu verbessern.
- Verfahrenslotsen: Neu eingeführte Verfahrenslotsen im Jugendamt sollen Familien durch das komplexe Hilfesystem navigieren und bei der Antragstellung unterstützen.
Chancen der Reform: Stärkung von Rechten und Teilhabe
Die inklusive Ausrichtung der Jugendhilfe birgt erhebliche Potenziale:
- Vereinfachung für Familien: Keine aufreibenden Zuständigkeitsklärungen mehr, ein fester Ansprechpartner im Jugendamt.
- Ganzheitliche Unterstützung: Die Bedürfnisse des Kindes und der Familie können umfassender betrachtet und Hilfen besser aufeinander abgestimmt werden. Die Trennung zwischen "Erziehungsproblem" und "Behinderung" wird überwunden.
- Frühere und niedrigschwellige Hilfen: Durch die Bündelung unter dem Dach der Jugendhilfe können Bedarfe früher erkannt und passgenaue, auch präventive Angebote leichter zugänglich gemacht werden.
- Abbau von Stigmatisierung: Die gemeinsame Zuständigkeit kann dazu beitragen, die Stigmatisierung von Behinderungen zu reduzieren und das Verständnis von Vielfalt als Normalität zu fördern.
- Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen: Das KJSG betont generell die Rechte junger Menschen, insbesondere ihr Recht auf Beteiligung und Selbstbestimmung bei allen sie betreffenden Entscheidungen. Dies gilt nun explizit auch für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen im Kontext der Jugendhilfe.
- Impulse für die Weiterentwicklung der Jugendhilfe: Die Auseinandersetzung mit Inklusion zwingt die Jugendhilfe, ihre Konzepte, Methoden und Strukturen zu überprüfen und weiterzuentwickeln.
Herausforderungen bei der Umsetzung: Ein Marathon, kein Sprint
Trotz der positiven Zielsetzung ist die Umsetzung der inklusiven Lösung ein komplexer und langwieriger Prozess, der mit erheblichen Herausforderungen verbunden ist:
- Systemumbau und Schnittstellenmanagement: Die Zusammenführung zweier bisher getrennter Hilfesysteme mit unterschiedlichen Kulturen, Rechtsgrundlagen und Finanzierungsstrukturen ist eine Mammutaufgabe. Klare Regelungen für die Zusammenarbeit und die Schnittstellen (z.B. zum Gesundheitswesen, zur Schule, zur Sozialhilfe) sind entscheidend.
- Finanzierung: Die Frage der Finanzierung der zusätzlichen Aufgaben und der oft kostenintensiven Eingliederungshilfeleistungen ist ein zentraler Knackpunkt. Es muss sichergestellt sein, dass die Kommunen die notwendigen finanziellen Mittel erhalten, um die Reform stemmen zu können, ohne dass es zu Lasten anderer Jugendhilfeleistungen geht.
- Fachkräftemangel und Qualifizierung: Die Jugendhilfe benötigt dringend zusätzliches Personal, das sowohl pädagogisch als auch im Hinblick auf spezifische Behinderungsbilder und rechtliche Grundlagen qualifiziert ist. Umfangreiche Fort- und Weiterbildungsprogramme sind notwendig, um die Fachkräfte auf die neuen Aufgaben vorzubereiten. Der allgemeine Fachkräftemangel verschärft diese Problematik zusätzlich.
- Veränderung von Haltungen und Kulturen: Inklusion erfordert ein Umdenken bei allen Beteiligten – in den Jugendämtern, bei den freien Trägern, aber auch in Schulen und anderen Institutionen. Vorhandene Vorbehalte und Berührungsängste müssen abgebaut werden.
- Regionale Unterschiede: Die Voraussetzungen und Fortschritte bei der Umsetzung der Reform können sich regional stark unterscheiden, abhängig von den lokalen Strukturen und Ressourcen.
- Sicherstellung der spezifischen Expertise: Es muss gewährleistet sein, dass das spezifische Fachwissen aus der Eingliederungshilfe nicht verloren geht, sondern in die Jugendhilfestrukturen integriert wird.
Die Rolle der Jugendhilfeträger im Transformationsprozess
Als Träger von Jugendhilfeleistungen spielen wir eine aktive Rolle bei der Gestaltung dieses Übergangs:
- Anpassung unserer Angebote: Wir entwickeln unsere Konzepte und Angebote weiter, um den Anforderungen einer inklusiven Jugendhilfe gerecht zu werden. Das bedeutet, Barrieren abzubauen und uns für alle Kinder und Jugendlichen zu öffnen.
- Qualifizierung unserer Mitarbeiter*innen: Wir investieren in die Fort- und Weiterbildung unserer Teams, um sie bestmöglich auf die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichen Bedarfen vorzubereiten.
- Kooperation und Vernetzung: Wir intensivieren die Zusammenarbeit mit anderen Akteuren im Sozialraum – Schulen, Kitas, Therapeutinnen, Ärztinnen, Selbsthilfegruppen und der Eingliederungshilfe –, um nahtlose Unterstützungsketten zu schaffen.
- Entwicklung neuer Konzepte: Wir beteiligen uns an der Entwicklung und Erprobung innovativer, inklusiver Modelle der Unterstützung und Förderung.
- Interessenvertretung: Wir bringen unsere Praxiserfahrungen in die fachpolitische Diskussion ein und setzen uns für gute Rahmenbedingungen für die Umsetzung der Reform ein.
Eigene Gedanken: Inklusion als Haltung und Auftrag
Die Schaffung einer inklusiven Jugendhilfe ist mehr als nur eine Gesetzesänderung; es ist ein Kulturwandel und eine Frage der Haltung. Es geht darum, Vielfalt als Reichtum zu begreifen und jedem Kind, jedem Jugendlichen die Chance auf volle Teilhabe und bestmögliche Entwicklung zu geben. Der Weg dorthin ist anspruchsvoll und wird uns noch viele Jahre beschäftigen. Es wird Rückschläge geben, und wir werden kontinuierlich dazulernen müssen. Aber die Vision einer Gesellschaft, in der alle Kinder und Jugendlichen selbstverständlich dazugehören und die Unterstützung erhalten, die sie brauchen, ist jede Anstrengung wert. Als Jugendhilfeträger sehen wir es als unseren Auftrag, diesen Weg aktiv mitzugestalten und uns mit aller Kraft dafür einzusetzen, dass das Versprechen des KJSG – eine starke Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen – Realität wird.
